Designgeschichte(n)

DIE CONTAINER- GESCHICHTE

ADRIANA ALTARAS

Die Container-GeschichteDie Container-Geschichte

Die Geschichte begann – wie üblich – mit einem Todesfall.
Meine Tante. Italien. Die Wohnung aufgelöst. An einem Mittwochmorgen landeten die Möbel per Spedition in Berlin. Benachrichtigung durch den Zoll. Ein riesiger roter Container. Ein kleiner Aufkleber, die Schrift ist verwischt, mein Name. Möbel für mich. Für mich ganz allein. Schöne Möbel. Antik bis sehr antik. 16. Jahrhundert, 1786, 1820 und so weiter. Dunkle Hölzer, viele Intarsien, großes Handwerk.

Nur – was sollte ich damit. Meine Wohnung war schön. Ich mochte sie gerade sehr, die leeren Flächen, die Aufgeräumtheit, irgendwie edel, aber doch wohnlich. Wie die modernen Wohnungen heute sind: moderne Wohnungen für moderne Menschen, Klarheit, Sachlichkeit mit edlen Details, kein Kitsch, ein paar extreme Farbakzente. Gut, man weiß nicht so recht, wo man sitzen soll. Aber ist
das so wichtig?
Der Zoll gab mir die Möbel ohne Formalitäten. Und nun hatte ich das Problem: ein Container voller Vergangenheit, voller Geschichte. Geschichte in Holz. Die Alternative hieß: ein Museum voller Louis Quatorze, begehbar mit Filz­pantoffeln in Übergröße oder Loft-Ästhetik „Schöner Wohnen“ in Weißlack. Beide übersichtlich, ordentlich, staubfrei. Wer schleppt auch den Esstisch seiner Kindheit hinter sich her? Den Wohnzimmertisch, um den man den Hund jagte, in den man die 6er-Reihe mit dem Küchenmesser eingravierte und die Sonntagsbratensauce heimlich verrieb?

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Nein, das tut man nicht. Blanke Sentimentalität, kindliche Schwäche. Es ist beinahe so, als würde man erneut zu Hause einziehen, Regression, gehe zurück zur Badstraße.
Ich schloss den Container und parkte ihn bei Zapf Umzüge: mein roter zwischen all den orangenen. Unfähig zu jeder weiteren Entscheidung.
In der ersten Nacht ging alles gut. Aber schon in der zweiten träumte ich von stilistisch perfekten Einrichtungen: Ligne Roset-Betten fuhren auf mich zu, Bulthaup- und Miele-Küchen (die in diesem tollen Rot!) umkreisten mich wie Raubtiere. Schrankwände sprangen auf und zu im Sekundentakt. Ich flog über herrliche Liegelandschaften – und bekam kein Auge zu. In der folgenden Nacht hatte man mich im Stilwerk eingeschlossen. Lampen aller Modelle schwebten wie exotische Insekten über mir, griffen nach mir, bedrohten mich – nur leuchten taten sie nicht.
Schließlich träumte ich von einem leeren Raum. Unfassbar schön. Unendlich einsam. Ein Dasein ohne Möbel.

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Ich war abgemagert, hatte Ringe unter den Augen, da half kein Abdeckstift mehr. Es musste etwas geschehen! Ich ließ mir den Container aufschließen. Und da waren sie alle, als hätten sie auf mich gewartet. Wie Verwandte – nur weniger vorwurfsvoll. Der kleine Braune von Poltrona Frau: Was für eine vollendete Form, denke ich, und fast 100 Jahre alt. Er scheint mich einzuladen. Behutsam setze ich mich. Gott, ist der bequem! Ich komme mit den Füßen auf den Boden, ein seltener Fall für mich bei den mitteleuropäischen Designermöbeln, keine gestauchte Wirbelsäule, kein Bandscheibenvorfall! Rechts davon eine Thonet-Bank, links zwei dazugehörige Thonet-Armstühle. Ein Genie von einem „creative director“, der diese Sitzmöbel erfand. Im milden Herbstlicht, das in den Container fällt, wirken sie leicht und stabil, ohne aus Alu, Stahlrohr oder Flexiform zu sein.

Aus! Schluss! Ende! Ich werde gehen. Für immer. Herausgehen, ich lasse alles hinter mir: stilistisches Dilemma, Hin- und Hergerissen sein zwischen Anspruch und Vergangenheit. Aus! Vielleicht nehme ich die kleine Olivetti mit, die rote Reiseschreibmaschine. Hat mir Zio Giorgio geschenkt, der Onkel aus Mantova. Ich war 5, und die rote Olivetti das kleinste, leichteste, schickste und modernste, was es damals gab: der rote Ferrari unter den
Reiseschreibmaschinen. Kein Mensch schreibt mehr auf einer Schreibmaschine, ich weiß. Ich könnte sie notfalls meinen Söhnen zeigen. Darauf hat man damals geschrieben. Zum Mitnehmen auf die Reise. Die Schreibmaschine für die Toskana.

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Ja, ja, in die Toskana fährt auch niemand mehr, Sri Lanka, Seychellen, Dominikanische Republik – und Internet gibts überall. Ich werde die Olivetti trotzdem mitnehmen, und wenn ich nicht darauf schreibe, werde ich darauf sitzen.
Ein Jahr ist vorbei und es gibt ein Leben nach dem Tod, durchaus auch mit Möbeln. Es ist ein Leben der wilden Mischung. Die Philippe Starck-Badewanne auf den Berliner Fliesen, das MacBook auf dem viktorianischen, zusammenklappbaren Schreibtisch. Oben kämpfe ich mit E-Mails, Textformatierungen und Layouts. Darunter der Tisch erinnert mich an eine andere Zeit. Die nicht unbedingt besser war, die aber zu mir gehört. Der moderne TGV fährt schließlich auch in den Gare du Lyon. So ist Europa, warum sollte es in meiner Wohnung anders aussehen?

Vor zwei Monaten ist meine alte Mutter zu mir gezogen, sie hat ein kleines Hündchen, einen Bologneser, und noch einiges Geschirr aus der K.u.k.-Zeit mitgebracht. Soll ich das Hündchen, die Mutter, das Rosenthal-Porzellan und das ganze Silber in den Container sperren? Auf den Dachboden der Geschichte? Das Hündchen ist zwar nicht ganz stubenrein, aber was solls? Wir alle amüsieren uns prächtig.

Die Autorin, Regisseurin und Schauspielerin Adriana Altaras wurde in Zagreb geboren und lebt in Berlin. In der Spielzeit 2008/09 inszeniert sie im Hans Otto Theater, Potsdam, die Uraufführung ihres Stücks „Der Fall Janke“. Im Film „The Countess“, Start im Frühjahr 2009, spielt sie unter der Regie und an der Seite von Julie Delpy.

Dieser Text ist ein Auszug aus dem im Frühjahr erscheinenden Buch "50 Jahre 50 Produkte – Designgeschichte(n) erzählt von MAGAZIN".

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