Welches Plastik wir uns leisten wollen

Zeit für ein Gedankenspiel! Was wäre, wenn Kunststoffe eine wertvolle Ressource wären – und nicht schier endlos und billig verfügbar? Dieser Perspektivwechsel könnte helfen, uns aus unserer toxischen Beziehung mit dem Plastik zu lösen. Das Ziel: Kunststoffe bewusster konsumieren – weg vom Einweg, hin zur langen Nutzung, weg von der schnell entsorgten Verpackung, hin zu sinnvollen, kreislauffähigen Kunststoffprodukten.

Text: Jasmin Jouhar

Beziehungsstatus: Es ist kompliziert! Einerseits wissen wir nur zu gut, dass wir mit unserem Kunststoffkonsum die Umwelt verseuchen und am Ende auch uns selbst. Aber andererseits können wir vom Plastik nicht lassen. Wir führen eine buchstäblich toxische Beziehung zu all dem PET, PVC, Polystyrol und Polyester um uns herum, eine Beziehung, die von Ignoranz, Selbstbetrug oder Verdammung geprägt sein kann. Fangen wir an mit der Ignoranz: Es dürfte wohl niemandem entgangen sein, dass sich in den Ozeanen riesige Müllstrudel drehen und Mikropartikel aus zersetzten Tüten, Reifenabrieb oder Textilfasern selbst an den entlegensten Orten der Welt gefunden werden – und im menschlichen Organismus. Wer es genauer wissen will, kann auch leicht herausfinden, dass bei der Produktion von Plastik giftige Stoffe entstehen, genauso bei seiner Verbrennung. Und dass das Recycling von Haushaltsabfällen bislang nur in Ansätzen funktioniert und unser Wohlstandmüll in andere Länder verschifft wird.

Doch trotz all dieser erschreckenden Erkenntnisse: Die Produktionsmengen von Kunststoffen und ihr Konsum scheinen nur eine Richtung zu kennen: nach oben! Wir blenden oft aus, welchen Schaden wir anrichten – die Klimakrise lässt grüßen. Psychologisch sind solche Verhaltensweisen vielfach erklärt worden, der Mensch denkt kurzfristig und verdrängt Gefahren, die in der Zukunft liegen. Außerdem sind wir einfach sehr bequem, und da kommen uns all die Flaschen, Tüten, Folien und To-Go-Becher gerade recht. Sie sind leicht, hygienisch und werden nach Gebrauch einfach entsorgt. Auf Nimmerwiedersehen – was natürlich nicht stimmt, siehe oben. Tatsächlich können wir uns unseren konsumorientierten Lebensstil überhaupt nur leisten, weil Kunststoffe günstig und in großen Mengen verfügbar sind. Verpackungen, Hausrat, Kleidung, Spielzeug, Elektrogeräte, Fahrzeuge – überall stecken Kunststoffe drin. Auch Bauindustrie und Landwirtschaft kommen schon lange nicht mehr ohne aus. Wir leben im Plastizän! Und, was vielleicht am schwersten wiegt: Die chemische Industrie als Kunststoffproduzent hat überhaupt kein Interesse daran, den Konsum zu bremsen. Denn im Grunde sind Kunststoffe bloß ein Abfallprodukt der Erdölverarbeitung, mit dem sich zusätzlich viel Geld verdienen lässt.

BIOPLASTIK IST NICHT IMMER BIO

Kommen wir zum Selbstbetrug, einer ebenfalls nur allzu menschlichen Reaktion auf die Misere. Sickert nämlich doch die Erkenntnis ein, dass es mit uns und dem Plastik so nicht weitergehen kann, werden gerne schnelle, einfache Lösungen gesucht. Zum Beispiel: Bioplastik. Hört sich ja auch gut an. Ist nur in der Realität leider mal wieder viel komplexer. Denn was Begriffe wie kompostierbarer Kunststoff oder biobasierter Kunststoff genau bedeuten, ist nicht gesetzlich geregelt. Als Kundin oder Kunde muss ich den Angaben der Hersteller trauen. Ein Beispiel: die Müllbeutel aus biologisch abbaubaren Kunststoffen, die viele zum Sammeln und Entsorgen der organischen Küchenabfälle verwenden. Im Prinzip ist die Aussage schon richtig, dass die meist grünen (!) Folien tatsächlich zu Wasser, CO2 und Biomasse zerfallen – allerdings nur unter bestimmten Bedingungen. Und diese Bedingungen herrschen in der Kompostieranlage des lokalen Müllentsorgers nicht unbedingt. So bleibt der organische Abfall meistens nicht lange genug in der Anlage, dass sich der Kunststoff ganz zersetzen kann. Viele Sortieranlagen können Bio-Kunststoff auch nicht von „normalen“ unterscheiden und sortieren die Tüten gleich aus. Und selbst wenn die Kompostierung funktionieren sollte: Die biologisch abbaubaren Kunststoffe können schädliche Substanzen enthalten. Das gilt nicht nur für Müllbeutel, sondern auch für Einweggeschirr und Verpackungen. Es grenzt also leider an Selbstbetrug, den einen Kunststoff einfach nur durch einen anderen, vermeintlich grüneren zu ersetzen. Bislang gibt es noch keine überzeugenden ungiftigen und problemlos abbaubaren Alternativen auf Kunststoffbasis. Wer als Verbraucher halbwegs vernünftige Kaufentscheidungen treffen möchte, muss sich also schon sehr genau informieren. Doch wer kann das schon im Alltag immer leisten?

Alltägliche Realität im Supermarkt: Produkte aufwendig verpackt in Plastik

Bakelit ist hitzebeständig und leitet nicht. Perfekt geeignet für elektrische Geräte

Granulat von Polypropylen. Begegnet und im Alltag als Folie oder Verpackungen

Eine dritte, häufige Reaktion auf unser toxisches Verhältnis zum Plastik: die Verdammung. Als ob Kunststoffe grundsätzlich des Übels wären, werden sie gemieden, sogar regelrecht verteufelt. Selbstverständlich ist es gut und allemal gerechtfertigt, den eigenen Plastikkonsum zu hinterfragen und alte Gewohnheiten zu überdenken. Die „Zero-Waste“-Bewegung beispielsweise hat viele kreative Tricks und Tipps entwickelt, wie sich im Alltag Plastik vermeiden lässt. Aber es gibt eben auch jede Menge sinnvolle Kunststoffprodukte, die sich nicht einfach so ersetzen lassen. Etwa im medizinischen Bereich, wie die Pandemie ziemlich nachdrücklich gezeigt hat. Einweg-Schutzmasken aus künstlichen Fasern verursachen einerseits weltweit enorme Müllberge, haben aber andererseits unzählige Leben gerettet und viele Menschen vor schwerer Krankheit bewahrt – falls es noch einen Beweis dafür gebraucht haben sollte, wie kompliziert die Mensch-Plastik-Beziehung ist. Darauf zu hoffen, dass Mikroorganismen unseren Plastikabfall irgendwann einfach auffressen, ist angesichts der Dringlichkeit auch keine Lösung. Zwar gibt es erste vielversprechende Forschungsergebnisse, etwa mit Bakterien, die Polystyrol verdauen können – doch das gelingt bislang nur im Labor.

kostbare kunststoffe

Wie also kommen wir raus aus dieser toxischen Beziehung? Indem wir versuchen, eine neue Perspektive auf Kunststoffe einzunehmen und sie als wertvolle Ressource betrachten. Denn der Kern des Plastikproblems liegt ja darin, dass die meisten Kunststoffe so billig zu produzieren sind. Entsprechend sorglos ist unser Umgang mit ihnen. Doch wenn sie kostbar wären, dann würde sich unser Verhalten ändern, wir würden ungleich bewusster mit ihnen umgehen. Angesichts der Lobbymacht der erdölverarbeitenden Industrie und der Macht der Plastikgewohnheit heute leider lediglich ein Gedankenspiel, aber ein produktives, um zu verstehen, wie wir Kunststoffe sinnvoller nutzen können. Alltägliche Einweg-Produkte wie Verpackungen wären dann viel zu teuer. Hersteller und Handel müssten sich nach Alternativen umsehen, Mehrwegsysteme aufbauen – und wir müssten uns die ein oder andere Bequemlichkeit abtrainieren. Wir könnten es uns auch nicht mehr leisten, Kunststoffe einfach wegzuwerfen und zu verbrennen.

Wenn neu hergestelltes Plastik eine wertvolle Ressource wäre, dann würde sich auch das Wiederverwenden und Recyceln lohnen. Wie selbstverständlich würde alle Arten von Produkten gesammelt, sortiert und wieder in die Materialkreisläufe eingespeist. Entsprechend wären viele Gegenstände so gestaltet, dass sie sich leicht in ihre einzelnen Bestandteile zerlegen ließen. Und nicht zuletzt würden wir Kunststoffe vor allem da verwenden, wo sie lange im Einsatz sind und sich der finanzielle Aufwand lohnt. Nicht mehr der Preis wäre dann der ausschlaggebende Faktor, sondern die besonderen Eigenschaften einzelner Kunststoffe, dank derer sie anderen Materialien in bestimmten Situationen überlegen sind. Mit diesem Perspektivwechsel lösen sich viele Konflikte in dieser komplizierten Beziehung wie von selbst. Im Moment, wie gesagt, lediglich als fast schon verführerisches Gedankenspiel. Aber eben auch als ganz pragmatisches Prüfinstrument für unsere täglichen Konsumentscheidungen, immer entlang der Frage: Wollen wir uns dieses Plastikprodukt wirklich leisten? Nicht immer, aber viel häufiger als heute, würde die Antwort dann lauten: Nein.

Bilder: Oleksabdr, Adobe Stock; Dario Sabljak; saravut, Adobe Stock; Peter Stackpole/ The LIFE Picture Collection/ Shuttershock; Xavi Cabrera, Unsplash

KUNSTSTOFF IST NICHT GLEICH KUNSTSTOFF

PET, PP oder PVC? Wer weiß schon sicher, welcher Kunststoff hinter welcher Abkürzung steckt und wozu er geeignet ist. Erfahren Sie im Glossar mehr über sieben Produkte aus dem MAGAZIN-Sortiment und die Kunststoffe, aus denen sie gefertigt sind.

NIMM DAS ZURÜCK

Eine Produktneuheit, die schon 2010 entworfen wurde? Das ist Stuhl REX von Ineke Hans. Die niederländische Designerin hatte Rex bereits vor einigen Jahren entwickelt, als Kunststoffstuhl aus einfach voneinander zu trennenden Teilen. Die Marke Circuform brachte ihn daraufhin noch einmal auf den Markt, aus recyceltem Polycaprolactam (PA6) – und mit Retoureversprechen! Wer REX erwirbt, kann sich darauf verlassen, dass der Hersteller den Stuhl eines Tages auch wieder zurücknimmt – und den dann aktuellen Materialwert des Stuhls erstattet. Die Idee dahinter: Kunststoff lässt sich nur effizient recyceln, wenn man die genaue Zusammensetzung des Materials kennt. Idealerweise kommt ein Plastikprodukt am Ende des Lebenszyklus also zu seinem Ursprung zurück. Für die Möbelindustrie fordern Expert*innen schon länger entsprechende Rücknahmesysteme – mit REX unterziehen Ineke Hans und Circuform die Quadratur des Kreises nun erstmals einem Realitätscheck.

325,00 €
259,00 €

Ineke Hans

Die Designerin ist Professorin für Produktdesign an der Universität der Künste in Berlin, sie unterhält Studios in Arnheim und Berlin und entwirft Produkte, Möbel und Ausstellungen. In ihrer Zeit in London initiierte sie mit „Salon“ eine Gesprächsreihe über die Zukunft des Möbeldesigns. Ineke Hans hat für zahlreiche namhafte Unternehmen aus der Designbranche gearbeitet und die Nachwuchsplattform German Design Graduates mit ins Leben gerufen. Bild: Jorit Aust

ABS / Fahrradhelm CHAPTER

Die Außenschale des Fahrradhelms CHAPTER besteht aus Acrylnitril-Butadien-Styrol, ABS abgekürzt. ABS ist ein Thermoplast, es lässt sich mehrfach erhitzen und verformen. Gleichzeitig ist es bruchfest, formbeständig und zudem relativ leicht. Die meisten kennen es schon aus Kindertagen: Auch LEGO®-Steine sind aus ABS.

149,00 €

PP / Schubkasten Atlas

Polypropylen (PP) ist ebenfalls ein thermoplastischer Kunststoff, frei von Weichmachern und gut zu recyceln. Wir lassen beispielsweise den Schubkasten für unseren Container ATLAS aus PP herstellen.

19,90 €

EVA / Etui Mesh Bag

Ganz ohne Weichmacher oder PVC kommen die MESH BAGs aus – die Folien werden aus Ethylen-Vinyl-Acetat, kurz EVA, hergestellt. Ein leichter und elastischer Kunststoff, der sich recyceln lässt. Gut zu wissen: EVA ist zudem ungiftig und lebensmittelecht, falls die MESH BAGs mal spontan zur Snacktüte umfunktioniert werden.

17,90 €

PVC / Stuhl Säntis

Polyvinylchlorid, bekannt als PVC, ist umstritten, etwa wegen der Weichmacher. Warum wir trotzdem den Stuhl SÄNTIS mit PVC-Schnüren anbieten? Weil der Kunststoff sehr sparsam eingesetzt ist und mit Witterungsbeständigkeit überzeugt. Sollte die Bespannung doch einmal beschädigt sein, lässt sich der Stuhl leicht reparieren.

199,00 €

Silikon / Seifenschale Float

Silikon ist das optimale Material für die Seifenschale FLOAT. Es ist wasserfest und gut zu reinigen, sodass sich Seifenreste leicht entfernen lassen. Zugleich schützt es dank seiner Weichheit den Untergrund. Weil Silikon je nach Zusammensetzung Temperaturen von 200 bis 250 °C verträgt, wird es häufig auch bei Produkten für die Küche verwendet.

13,00 €

rPET / Matte Liv

Polyethylenterephthalat ist einer der geläufigsten Kunststoffe – jeder kennt die PET-Flasche. Die Matte LIV besteht aus eben solchen Flaschen, in Indien – dem Land mit dem weltweit höchsten Recyclinganteil – gesammelt und zu rPET-Garn verarbeitet. LIV trocknet schnell und lässt sich problemlos waschen, sie ist ideal für Balkon oder Terrasse.

69,90 €

Plastik ist Gewohnheitssache. Machen wir uns bewusst, wo überall Kunststoff drin steckt. Einige Beispiele.

Verbundkarton Getränkepäckchen, Milchtüten, Saftbox, sogar Wein gibt es in den eckigen Verpackungen. Alles, was flüssig ist, wird in Verbundkartons abgefüllt. Wer die im Papiermüll entsorgt, steht aber vor der falschen Tonne. Denn die Boxen sind nur außen von Pappe, innen sind sie mit Aluminium und Polyethylen ausgekleidet. Gut für die Dichtigkeit, schlecht fürs Recycling.

Pulverbeschichtung Wie die Farbe aufs Metall kommt? Per Pulverbeschichtung. Das ist zwar viel haltbarer und damit langlebiger als herkömmliche Lackierungen. Aber die Farbpartikel bestehen aus Erdöl-Kunststoffen, oft sind beim Pulverbeschichten Epoxid- und Polyesterharze im Spiel.

Kaltschaummatratze Ihre ergonomischen Qualitäten überzeugen – ihre Ökobilanz nicht ganz so sehr. Kaltschaummatratzen bestehen aus aufgeschäumtem Polyurethan, in der Regel erdölbasiert, teilweise durch natürliche Öle ersetzt. Am Ende ihres Lebens werden die Matratzen bislang meist einfach verbrannt. Allerdings steht ein neues chemisches Recyclingverfahren kurz vor dem Start. Wichtig fürs Recyceln: die Trennbarkeit der einzelnen Bestandteile einer Matratze.

Turnschuhe Alle lieben Sneaker – und kaum einer denkt dabei an die Umwelt. Die meisten Turnschuhe sind nämlich ein fest verklebtes, kaum trennbares Konglomerat aus verschiedenen erdölbasierten Kunststoffen wie Polyurethan, EVA, Polyester, Polyamid und synthetischem Gummi. Endstation: Müllverbrennung.

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  • Wie zerstörerisch die zügellose Herstellung und Nutzung von erdölbasiertem Plastik sein kann, dürfte mittlerweile allen bewusst sein. Deshalb wird längst an Alternativen geforscht. In ihrem Studio in einer ehemaligen Farbenfabrik bei Amsterdam arbeitet das Duo Klarenbeek & Dros mit Algen und Pilzen am Kunststoff der Zukunft. Er soll nicht nur kompostierbar sein und die Umwelt schonen, seine Produktion soll auch CO2 binden – und sogar die biologische Vielfalt fördern.