KOLUMNE

Schluss mit Homeshaming!

Seit fünfzehn Jahren schreibe ich über perfekte Häuser und Interieurs, lese ich in meiner Freizeit Blogs über perfekte Häuser und Interieurs und kaufe in nicht haushaltsüblichen Mengen schwere Bücher, in denen es entweder um perfekte Häuser oder perfekte Interieurs geht. Ich kann nichts dagegen machen. Eine Fotostrecke über ein Haus in den Cotswolds oder aus einem Loft in New York hat auf mich die gleiche Wirkung wie Tierbabys oder Tiramisu auf andere Menschen. So richtig genießen kann ich die Lektüre aber erst, seit ich aufgehört habe, diese Fotostrecken mit meinem Ist-Zustand zu Hause zu vergleichen. Denn die perfide Botschaft all der Wohnmagazine und Interieurblogs lautet ja: Wir zeigen dir, wie es aussehen könnte.

Klar, könnte es. Wenn ich ein Jahr freinehmen würde, Frau und Kind ausquartiere, dafür einen gefügigen Innenarchitekten und einen Schreiner einziehen ließe und sich gleichzeitig eine reiche Erbtante melden würde oder lieber gleich zwei. Es ist im Grunde wie mit Körpern in der Werbung, nur dass uns statt perfekter Bauchmuskeln eben muskulöse Möbel von Le Corbusier präsentiert werden und freistehende Wannen statt hochstehender Wangenknochen. Es ist nicht der Alltag, der in diesen Heften zu sehen ist. Das sollte als Warnung verpflichtend auf der ersten Seite stehen, als Maßnahme gegen Homeshaming! Unsere Räume (und unsere Körper) sehen so aus, wie sie aussehen, weil wir darin leben. Und leben bedeutet nicht, minimalistisch zwischen Sessel und Stehleuchte herum zu stehen. Nein, Leben macht nonstop Falten und Schmutz, Wohnungen haben Kabel, hässliche Heizungen, Steckdosen, schwierige Ecken und hundert Dinge, die nötig sind, weil wir etwas zu essen, anzuziehen, zu lesen oder Kinder haben möchten.

Ein originaler Kleiderabwurfstuhl war zum Beispiel noch in keiner der Tausenden Fotostrecken zu sehen, dabei gibt es ihn vermutlich in jedem Schlafzimmer. Er ist nicht ästhetisch, aber er hilft uns im Alltag und darum geht es. Dauerhaft in so einer perfekten Wohnung zu leben, wäre zwar meditativ, aber eben auch langweilig und anstrengend – so als störendes, weil nachlässig designtes Menschlein. An authentisch bis kakofonisch gewachsener Einrichtung hingegen kann man die Lebensphasen der Bewohner ebenso ablesen wie ihre Vorlieben und Schwächen. Missglückte DIY-Versuche gehören dazu und Souvenirs von Reisen, der eine Flohmarktfund, auf den man so stolz ist, und diese paar Ikea-Sachen, die sich hartnäckig halten. Ein Brandfleck in der Tapete, eine abgewetzte Stelle im Parkett, wo immer der Schreibtisch stand – das ist die Patina eines Lebens!

Text: Max Scharnigg
Illustration: Sophia Martineck

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